Ich sehe der Frau vor mir direkt in die Augen, sie weicht meinem Blick nicht aus, sondern schaut mich freundlich, abwartend, aber nicht ablehnend an. „Darf ich Dir einige Fragen stellen? Ich beobachte Dich schon lange und würde gerne mehr über Dich erfahren.“ In ihre grauen Augen tritt ein schelmischer Ausdruck. „Wenn Du mir gestattest, mich auch gegebenenfalls einer Frage verweigern zu dürfen, können wir es ja mal versuchen“ kommt die Antwort.
Während ich nachdenke, betrachte ich mein Gegenüber, Anna, genauer. Eine weißhaarige Frau, das Gesicht vom Leben gezeichnet, mit feinen Fältchen auf den Wangen, tiefen Falten um Nase und Mund. Die Brille, die Kleidung ein Statement: Seht her, ich bin ein Individuum, ich gehe nicht mit dem Mainstream.
„Du denkst über mein Alter nach.“ Das ist keine Frage, sie stellt es einfach fest. „Ich bin 70, verheiratet und habe erwachsene Kinder und Enkel und zwei Urenkel.“ „Das klingt nach einem erfüllten Leben, zumal ich davon ausgehe, dass Du auch berufstätig bist oder warst.
Grüblerisch spielt ihre Hand an einer ihrer Halsketten. Mir fällt auf, dass ich sie noch nie ohne diese Ketten gesehen habe.
„Ich habe zweifellos ein sehr gefülltes Leben gelebt, aber war es auch erfüllt? Nein! So wie man sich ein erfülltes Leben vorstellt, war es nicht. Nach einer Kindheit bei liebevollen Großeltern mit 10 aus dem „Westen“ zu einer lieblosen, jeglicher Empathie unfähigen Mutter in die DDR, mit 14 in ein Internat, freiwillig. Mit 18 schwanger, kurz nach den Abiturprüfungen das erste Kind entbunden, vom Kindsvater – wie man so salopp sagt – sitzengelassen und ohne greifbare Familie. Die Zulassung zum Archäologiestudium, die ich schon in Händen hielt, war damit obsolet. Ich musste mir eine Arbeit suchen, mit der ich mein Kind und mich über Wasser halten konnte.“
Auf meine Frage, ob sie denn keine Unterstützung vom Staat bekommen konnte, schüttelt Anna den Kopf. In den Endsechzigern in der DDR war Sozialhilfe kein Thema. Sie hatte Glück, dass ihr direkt ein Betreuungsplatz für ihre Tochter in einer Kinderkrippe zugewiesen wurde. Dann hat sie ihr Arbeitsleben als Reinigungskraft in einem Industriebetrieb angefangen.
„Nach einem Einser-Abitur wirklich eine großartige Karriere.“ Der leichte Anflug von Bitterkeit in ihrer Stimme verschwindet schnell, sie sieht mich lächelnd an. „Du kennst „Stufen“ von Hermann Hesse? Das wurde zu meiner Lebensmaxime: Nicht aufgeben, das Leben und seine Herausforderungen annehmen, mal einen Umweg machen, aber nicht stehenbleiben.“
Sie nimmt einen Schluck von dem Kaffee, den sie seit geraumer Zeit festhält. Wieder wandert ihre Hand zur Kette. Sie fährt mit der Fingerkuppe über den geschnitzten pflaumengroßen Skarabäus, der eine polierte Sonnenscheibe über dem Kopf trägt.
„Und wie ging es dann weiter? Ich weiß, dass Du ein Studium erfolgreich abgeschlossen hast. Wie konntest Du das bewältigen?“
Anna nimmt noch einen Schluck Kaffee, sieht sich um, auf die vielen Bücher in den Regalen hinter sich, als wenn dort eine Antwort zu finden ist.
„Ich habe im Internat jemanden gefunden. Eine wirkliche Freundin, die erste und bis heute einzige meines ganzen Lebens, Stine. Auch sie im letzten Schuljahr schwanger, aber mit Familienunterstützung konnte sie nach dem Abitur mit einem dualen Studium beginnen. Sie hat als Notaranwärterin gearbeitet und gleichzeitig Jura studiert. Ich hatte zwischenzeitlich in der Volkshochschule eine Ausbildung zur Sekretärin absolviert. Da kam mir ihr Angebot, im Notariat als Sachbearbeiterin zu arbeiten, sehr gelegen. Das war gewissermaßen die erste Stufe, wenn Du Dich an H. Hesse erinnerst.“
Anna steht auf, sie braucht eine Pause. In der Küche bereitet sie eine Eisenpfanne mit Kartoffeln, Zwiebeln, Karotten, Fleischstücken, Olivenöl und Gewürzen vor, eine Peka, wie sie ihr Mann in Kroatien lieben gelernt hat. Die muss zugedeckt vier Stunden im Ofen backen. Man sieht, dass sie Freude an der Arbeit hat, sie entspannt sich dabei. Die Zutaten für den Salat stehen auch schon bereit.
Nach einer Stunde sitzen wir uns wieder gegenüber, Anna hat ein Glas Weißwein in der Hand und im Hintergrund singt Hermann Prey Mahlers „Kindertotenlieder“. Sie lächelt mich verhalten an und erzählt, wie es weiterging:
Einige Jahre arbeiten und dann, sie war inzwischen 30 und ihre erste Tochter kam in die 5. Klasse, bekam sie nach mehreren Anläufen die Studienzulassung für ein duales Studium an der Humboldt-Uni zu Berlin, nicht Archäologie, aber Jura, den späteren Brotberuf. Im Jahr davor hatte sie dann doch noch den Vater ihrer ersten Tochter geheiratet und die zweite Tochter war vier Monate alt.
„Damit war für die nächsten fünf Jahre sichergestellt, dass mein Leben mit Arbeit, Studium und Familie – in dieser Reihenfolge – mehr als gefüllt war. Da hätte jeder Tag gerne 36 Stunden haben dürfen. Einiges, vor allem meiner Großen gegenüber, ist dabei sicher auf der Strecke geblieben. Das schmerzt mich immer noch, auch wenn heute zwischen uns wieder Nähe besteht. Nach dem Studienabschluss (cum laude, wie sie nicht ohne Stolz bemerkt) waren die nächsten Jahre dann angefüllt mit Arbeit.“
Sie verstummt, auf ihrem Gesicht erscheint ein trauriger Ausdruck. Wieder beobachte ich den unbewussten, wie hilfesuchenden, Griff zur Kette
„Das kann es aber doch noch nicht gewesen sein.“ Ich stelle die Frage, die mich die ganze Zeit beschäftigt. Die Frage danach, was geschehen ist, dass sie heute so entspannt hier sitzt, anscheinend mit sich selbst im Reinen.
„Ich habe einen scharfen Schnitt gemacht. Meine Ehe wurde immer unerträglicher, mein Mann kam mit den Bedingungen nach der Wende nicht zurecht, er wurde arbeitslos, begann zu trinken und mich zu schlagen. Nach einem Herzinfarkt bekam ich durch Protektion eines Kollegen die Möglichkeit, im Kreditvorstand einer Bank zu arbeiten, weit entfernt im „Westen“. Ich griff zu, zog um und fing ganz von vorn an. Im Übrigen, meinen Kettenanhänger habe ich mir damals als Talisman anfertigen lassen. Ich habe von je her eine Affinität zur ägyptischen Mythologie und da erschienen mir Skarabäus und die Sonnenscheibe als Zeichen der Erneuerung passend für mein Leben.“
Mit erhobenem Glas lächelt sie mich an und setzt fort: „Vor 25 Jahren hat mir dann ein 16 Jahre jüngerer Mann den Hof gemacht, ganz wie in alten Zeiten. Und wir haben dieses Jahr 20. Hochzeitstag, Ende offen.“
Ich höre, dass die Wohnungstür geöffnet wird, wende die Augen vom Spiegel ab und begrüße meinen Mann, der von der Arbeit kommt.